NY K6
Kapitel 6 Als die Sonne hinter den Häusern versank, löste sich die kleine Gruppe um den Musiker langsam auf. Ich blieb sitzen, Tessa neben mir, unsere Jacken berührten sich kaum. Die letzten Strahlen zogen lange Schatten über die High Line, tauchten Gras und alte Schienen in dunkelgrünes und kupfernes Licht. Das Surren von Insekten mischte sich mit der gedämpften Stadt unter uns, wie ein tiefer Atem. Der metallische Geruch von warmem Stahl und kühler Erde stieg mir in die Nase, die Luft schmeckte nach Sommer und Asphalt. Wir standen auf. Ihre Kamera baumelte locker an ihrem Handgelenk, die Fingerspitzen kalt, als sie den Riemen richtete. Die Wärme des Holzes haftete noch an meinen Handflächen, während wir losgingen. Unter jedem Schritt knarrten die Holzbohlen leise, feine Splitter schabten über die Sohlen. Zwischen den Backsteinfassaden leuchteten schon die ersten Fenster, gelbe Vierecke, hinter denen Menschen kochten, lachten, fern sahen. Aus einer geöffneten Wohnung drang der Duft von gebratenem Knoblauch. Wir gingen schweigend an kleinen Beeten, Skulpturen und Sitznischen vorbei, in denen Paare flüsterten. Der Wind war weicher hier oben, roch nach Erde, Metall und süßem Teig von unten. Ab und zu streifte ein warmer Luftzug unsere Handgelenke. Ein paar Jogger liefen vorbei, Musik aus ihren Kopfhörern sickerte kurz zu uns herüber, brach gleich wieder ab. Am Ende der Treppe, unten auf der Straße, wurde der Verkehr lauter. Wir tauchten ein in eine Flut aus Stimmen, Hupen und aufblitzenden Bremslichtern. Es roch nach heißem Asphalt, nach Pizza aus dem Eckladen, nach Bier aus einer Bar mit offener Tür. In einem Schattenbogen stand ein Saxophonspieler, das Instrument glänzte im Restlicht, ein warmer Ton schwebte darüber. In seinem Koffer klirrten Münzen, daneben stand eine halb geleerte Wasserflasche. Tessa ging neben mir, die Kamera fest im Griff. Ihre Hand streifte meine kurz, vielleicht aus Zufall, vielleicht nicht. Sie sah mich an, ein Funken in ihrem Blick, dann wieder nach vorn. Wir überquerten eine Ampel, die Luft vibrierte von Motoren und Gesprächen. Über uns spannte sich der Himmel blauviolett, darin blinkten winzige Flugzeuge wie wandernde Sterne. „Wohin jetzt?“ fragte sie leise, fast im Lärm verloren. „Vielleicht runter zur Gansevoort Market Hall“, sagte ich. „Etwas essen, etwas trinken.“ Sie nickte, zog den Kragen hoch. „Klingt gut.“ Wir bogen in eine Seitenstraße. Die Häuser standen enger, es roch nach frischem Brot und nach Regen, der irgendwo über den Dächern auf Asphalt gefallen war. Gedämpftes Lachen drang aus Fenstern, eine Neonreklame spiegelte sich auf nassem Pflaster. Unter unseren Schritten klang das Pflaster hohl, ein anderer Rhythmus als oben auf den Bohlen. „Kennst du dich hier aus?“ fragte sie beiläufig. „Ein bisschen. Ich war vor Jahren schon mal hier. Aber nachts ist es anders.“ Sie lächelte, ohne stehen zu bleiben. „Ich mag das. Alles wirkt dichter.“ Die Geräusche wurden gedämpfter, nur unser Atem, das Klacken ihrer Kamera, das leise Rauschen des Windes. Wir liefen Schulter an Schulter, bis die Lichter der Market Hall vor uns aufleuchteten. Die warmen Lichter zeichneten ein Muster auf den Gehweg. Hinter den hohen Fenstern drängten sich Menschen an Ständen, Stimmen summten nach Essen, Musik und fremden Sprachen. Wir traten durch die breite Glastür, ein Schwall aus Wärme, Gewürzen und Geräuschen umhüllte uns. Drinnen roch es nach frisch gebackenem Brot, gegrilltem Fleisch, Kaffee und süßem Gebäck. Lichterketten spannten sich unter der Decke, Stände standen dicht an dicht, dampfende Töpfe, offene Grills, Gläser mit Kräutern. Menschen mit Tabletts schoben sich vorbei, ein Paar mit Cocktails, eine Familie mit Tüten voller Essen. Ein Ventilator drehte sich langsam und verteilte den Duft von Chili und Honig. Tessa drehte sich einmal um die eigene Achse, ihre Augen suchten den Raum ab. „Hier ist es voll“, murmelte sie fast in mein Ohr. Ihr Haar streifte meine Wange, es roch noch nach Wind und Shampoo. Wir schlängelten uns zwischen den Reihen hindurch, vorbei an einem Fischstand, einer Theke mit dampfenden Suppen, einem Tresen mit Austern auf Eis. An einem Tisch winkte jemand einem Bekannten, daneben wurde ein Platz frei und sofort wieder besetzt. „Hast du Lust auf irgendwas Bestimmtes?“ fragte ich und ließ meinen Blick über die Schilder schweifen: Tacos, Dumplings, Bowls, Pizza, Falafel, alles nebeneinander. „Ich will erst mal was trinken“, sagte sie. „Dann sehen wir weiter.“ Wir blieben vor einer Bar stehen, der Tresen aus dunklem Holz, dahinter Flaschen in allen Farben. Ich bestellte zwei Drinks. Klirren von Gläsern und das Zischen der Zapfanlage mischten sich mit Musik aus einem kleinen Lautsprecher. Tessa stützte sich mit dem Ellbogen auf, spielte mit dem Kamerariemen, ihre Finger kühl und metallisch riechend. Mit den Gläsern in der Hand drängten wir uns weiter in den hinteren Teil der Halle, wo es dunkler war. Ein schmaler Gang führte zu einer Ecke mit hohen Tischen und Hockern, durch ein Fenster sah man auf die Straße. Fast alle Plätze waren belegt. Ein Mann zog seine Jacke an, eine Frau stopfte Reste in eine Papiertüte. „Dort“, sagte Tessa und deutete auf die frei werdende Ecke. Wir traten gleichzeitig vor, lächelten entschuldigend zu einem Paar, das denselben Platz im Auge hatte, und setzten uns auf die Hocker, kaum dass sie frei waren. Ich stellte die Gläser ab, atmete tief durch. Von hier aus sah man die Halle, das Gedränge, die Lichterketten, den Dampf über den Töpfen. Es war laut, aber nicht unangenehm, eher wie ein eigener Rhythmus. Tessa legte die Kamera neben ihr Glas und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Das war gar nicht so einfach“, sagte sie lachend. „Nein“, antwortete ich. „Aber jetzt haben wir’s.“ Wir stießen an, die Gläser kühl in unseren Händen, während um uns die Market Hall weiter summte. In ihrem Blick lag jetzt etwas Weiches, fast Neugier. Sie lehnte sich leicht zu mir, der Duft ihrer Haut überlagerte für einen Moment Knoblauch und Bier. Ihre Knie berührten meine unter dem hohen Tisch. „Was trinkst du sonst so?“ fragte ich beiläufig. „Meistens Wein. Aber hier …“ Sie hob ihr Glas, sah das Licht durch die Flüssigkeit schimmern. „Hier passt das.“ Ein paar Tropfen glitten von ihrem Glas auf den Tisch, ich wischte sie mit einer Serviette auf, spürte, wie dicht wir saßen. Sie lächelte, ihre Finger streiften meine, als wollte sie sich wortlos bedanken. Wir saßen da, eingehüllt in Stimmen, Lichter und Gerüche, während die Market Hall um uns pulsierte.