NY K5

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Kapitel 5 Die Fähre löste sich langsam vom Dock, ein tiefer Ton vibrierte aus dem Bauch des Schiffes durch die Planken. Tessa und ich standen am seitlichen Deck, noch dicht gedrängt von anderen Fahrgästen, und sahen zu, wie die Rampe hinter uns hochgezogen wurde. Über dem Wasser hing ein schwerer Mix aus Salz und Diesel. Möwen kreisten schreiend über uns, ließen sich vom Wind tragen und stürzten auf die Gischt. Irgendwo klirrte Metall, ein Seil schlug gegen eine Rolle. Wir schoben uns einen halben Schritt näher an die Reling. Das Gedränge lockerte sich, das Rauschen des Wassers wurde präsenter. Mit jedem Meter Abstand zum Ufer breitete sich eine unerwartete Ruhe in mir aus. Tessa lehnte an der Reling, die Kamera locker vor der Brust. Ihr Haar flatterte im Fahrtwind, einzelne Strähnen klebten an der Stirn. Neben ihr spürte ich das erste Zittern, wenn das Schiff Fahrt aufnahm. Unter meinen Sohlen pochten die Motoren, als würde der Boden atmen. Gemeinsam blickten wir über die schäumende Spur hinaus auf das Wasser, das zwischen Manhattan und uns immer breiter wurde. Schräges Sonnenlicht spiegelte sich in den Fenstern der Hochhäuser und brach in glitzernden Splittern über der Bucht. Der Wind trug Gesprächsfetzen in fremden Sprachen herüber. Ein Moment Stille. Ich wagte, sie etwas länger anzusehen, während zwischen unseren Blicken kleine Fragen hingen, unausgesprochen und leicht. Sie strich sich die Strähnen aus dem Gesicht und drehte sich ein wenig zu mir. „Es ist so groß, ja? Alles hier“, sagte sie leise. Der weiche, fast singende Ton ihrer Stimme ließ das „hier“ sanft klingen. „Ja,“ antwortete ich, „vom Wasser aus merkt man erst, wie riesig die Stadt ist.“ Sie nickte, die Kamera schwang in ihrer Hand. „Ich bin erst zwei Tage hier. Du?“ „Heute Morgen gelandet.“ Ich lächelte. „Noch ein bisschen benommen.“ „Und jetzt sind wir hier.“ Ihr Blick glitt zurück aufs Wasser. „Sie zieht einen, diese Statue. Man will sie sehen.“ „Und fotografieren?“ „Ja. Für meine Mutter“, sagte sie stockend. „Sie war nie hier, aber sie liebt Bilder. Ich schicke Postkarten, so wie früher.“ „Das ist schön,“ sagte ich. „Kaum noch jemand macht das.“ „Ich auch nicht viel,“ erwiderte sie, „nur manchmal. Wenn es besonders ist.“ Das Gespräch versickerte kurz. Ich ließ den Blick über die Passagiere schweifen, atmete tiefer und hielt die Szene fest, bevor ich wieder zu Tessa sah. Wir lehnten beide an der Reling. Der Wind spielte zwischen uns, trug Gesprächsfetzen und Möwenschreie vorbei. Tessa rückte ein Stück näher ans Metall, ich folgte. Unsere Unterarme lagen fast parallel auf dem kalten Stahl. Ich roch einen Hauch ihres Parfums, zart unter dem Dieselgeruch verborgen. „Hast du einen Plan für die Stadt?“ fragte ich, die Augen auf die Wasserlinie gerichtet. Sie lachte leise. „Nur Zettel mit Namen… Orte, die ich sehen will. Kein echter Plan. Und du?“ „Auch nicht. Ich laufe gern einfach drauflos. Manchmal findet man so die besten Ecken.“ „Ja. Das kenne ich. In Amsterdam mache ich das auch. Einfach gehen, bis man sich verliert.“ Sie sprach „verliert“ gedehnt, charmant. Das Schiff hupte, ein langes, dunkles Signal vibrierte durch die Brust. Wir schwiegen. Hinter uns schrumpfte die Skyline, die Statue wuchs aus dem Wasser, erst grünlich schimmernd, dann deutlicher. Tessa hob die Kamera, machte ein paar Bilder und ließ sie wieder sinken. „Kalt ist es“, sagte sie, zog den Kragen hoch. „Ja.“ Ich bot ihr einen Platz im Windschatten an. Wir stellten uns so, dass die Kabine uns halb abschirmte. Unsere Schultern berührten sich leicht, während die Sonne auf dem Wasser tanzte. Langsam ließ der Wind nach, die Gespräche um uns wurden zielgerichteter, als hätten die Menschen schon den nächsten Schritt im Kopf. Ich richtete mich auf, sah zum Hafen hinüber, der näher kam. Als die Geräusche dumpfer wurden, glitt ein leises Einverständnis zwischen uns. Wir warteten, bis das Schiff anlegte, bis die Menschen sich sammelten. Dann verließen wir die Fähre und den Lärm hinter uns. Am Anleger fühlte sich die Luft dichter an, wärmer. Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke etwas herunter. Tessa suchte meinen Blick und nickte, als hätten wir ohne Worte beschlossen, zusammen weiterzugehen. Die Stadt empfing uns mit Rauschen und dumpfem Dröhnen von Motoren, ein leichter Film von Salz lag noch auf meinen Lippen. Wir hielten kurz inne, ließen den Strom der Leute vorbeiziehen. Zwischen hupenden Taxis und Stimmengewirr schien die Zeit kurz zu stocken, bevor wir wieder losgingen. Auf den breiten Stufen am Ufer floss die Bewegung auseinander. Tessa blieb neben mir, die Kamera locker in der Hand, als wäre das Erlebte noch Nachklang in ihrem Körper. „Wohin jetzt?“ fragte sie. „Lass uns hoch zum World Trade Center gehen“, schlug ich vor. Sie nickte. „Klingt gut. Ich wollte sowieso hochschauen zu dem neuen Turm.“ Wir gingen schweigend die Straße hinauf. Ein Jogger drängte sich mit gleichmäßigem Atem an uns vorbei, sein Schweiß roch scharf nach Metall und Anstrengung. Der Wind brachte Diesel und Algen, unterbrochen vom süßen Duft gerösteter Nüsse eines Straßenstands. Vor uns wuchs das Glas des One World Trade Centers immer höher, ein klarer Pfeil in den Himmel. „Beeindruckend“, murmelte Tessa und hob den Blick. „So hoch. Macht fast schwindelig.“ „Man gewöhnt sich“, sagte ich. „Irgendwann fühlt sich alles hier normal an.“ „Ich hoffe nicht“, erwiderte sie und lächelte. Am 9/11-Memorial stürzte Wasser in endlosen Schleifen in die Becken, Stimmen wurden automatisch leiser. Wir blieben kurz stehen, schwiegen. Tessa legte einen Finger an einen Namen auf der Brüstung, fotografierte nicht. Ihre Schultern sanken minimal, als atmete sie tiefer. Dann gingen wir weiter, am Hudson entlang, wo Licht zwischen Segelbooten und glattem Beton flirrte. Flusswasser und heißer Asphalt mischten sich mit Kaffeearomen kleiner Wagen am Rand. Das Zischen von Milchschäumen klang bis zu uns. Das monotone Rauschen des Flusses begleitete uns. Ich merkte, wie meine Sinne wacher wurden, jeder Duft und jede Bewegung klarer, je weiter wir uns vom Memorial entfernten. Die Promenade wurde breiter, der Himmel offener. Spaziergänger und Jogger zogen vorbei, Musik von den Piers kam bruchstückhaft herüber. Wir liefen im gleichen Tempo, unsere Schultern streiften sich. Tessa schoss ein paar Fotos von den Booten, dann sah sie zu mir. „Hast du Lieblingsplätze hier?“ „Ein paar. High Line zum Beispiel.“ „High Line… das ist der Park auf der alten Bahn, ja?“ Sie suchte in ihrer Tasche nach einer Haarspange, steckte sich die Strähnen hoch. „Will ich sehen.“ Unterwegs erzählte sie von ihrem Bruder, ich von meiner ersten Reise hier. Kleine Gesten begleiteten die Worte: Sie strich mir beiläufig eine Haarsträhne aus dem Gesicht, ich hielt ihr den Becher, als sie den Kameragurt neu einstellte. Wir lachten, als ein Radfahrer zu dicht vorbeifuhr, und wichen gemeinsam zur Seite. Ein warmer Schwall aus einem Subway-Schacht streifte unsere Beine, roch nach Metall, Staub und Brot. Wir bogen in eine Seitenstraße, um dem Verkehr auszuweichen, und standen plötzlich in einem ruhigeren Abschnitt. Die Gebäude wirkten niedriger, der Himmel heller, ein natürlicher Übergang zu einem neuen Abschnitt des Tages. Die Sonne sank tiefer, mit dem goldenen Licht kam eine stille Vorfreude. Tessa zupfte an meinem Ärmel, als wir die 14th Street erreichten und die Stufen zur High Line vor uns auftauchten. Wir stiegen hinauf. Oben wehte eine weichere Brise, mit dem Duft von Erde und frisch geschnittenem Gras zwischen den Gleisen. Stadtgeräusche wurden gedämpft, Licht glitt zwischen alten Backsteinfassaden und jungen Bäumen. Wir gingen nebeneinander, nicht nah, nicht fern, und doch im selben Takt. Sie machte ab und zu Fotos, dann ging sie wieder einfach nur und atmete. Die Holzbohlen knarrten leise unter unseren Schritten. Eine leichte Wärme lag noch auf den Metallresten der alten Gleise, das sanfte Summen der Stadt mischte sich mit dem Rascheln von Blättern. Wir setzten uns auf eine Bank, um den Sonnenuntergang zu genießen. Tessa legte die Kamera auf den Schoß, sah über die Schienenreste. Ihre Knie berührten fast meine. Ich spürte eine angenehme Wärme, wo unsere Jacken sich streiften. Die Sonne stand tief zwischen den Häuserkanten, warf lange, goldene Streifen über die alten Schienen und das frisch bepflanzte Grün. Um uns saßen Touristen mit Eis, ein Pärchen machte Selfies, ein Straßenmusiker spielte leise Gitarre. Das Rattern der Stadt drang gedämpft herauf, vermischte sich mit dem Surren von Insekten und dem Knistern von Papierbechern. Ich zog die Jacke enger, obwohl der Wind mild war, und spürte, wie Tessa neben mir die Knie anzog, die Kamera schützend in den Händen. Sie sagte nichts, ihr Blick folgte dem Licht, das die Fassaden in warme Farben tauchte. Für einen Moment war es still zwischen uns, ein stilles Einvernehmen im Summen der High Line, während die Sonne hinter dem Hudson versank. „Schön hier“, sagte sie schließlich, fast flüsternd. „Ja“, antwortete ich. „Als würde die Stadt für einen Moment den Atem anhalten.“ Sie lächelte, ohne den Blick abzuwenden. „So etwas vergisst man nicht.“ Ich nickte und ließ meine Hand auf der Bank liegen, nicht weit von ihrer. Der warme Holzton fühlte sich glatt an, und in der Luft hing dieser schwer zu fassende Duft aus Sonne, Staub, Gras und Meer, der alles zusammenhielt.

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