NY K4

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Kapitel 4 Die Masse schob sich weiter nach vorn, Schritt für Schritt, bis der Eingang der Fähre aufging. Metallisches Knarzen, Stimmen hallten unter dem Dach der Anlegestelle. Ich folgte den anderen, der Boden vibrierte unter hastigen Schritten. Der Geruch von Öl und Hafenwasser mischte sich, schwer und salzig. Die Bewegung ließ keinen Raum zum Zögern. Ich hielt meinen Rhythmus, ließ mich tragen, bis sich die Enge öffnete. Drinnen Gedränge. Menschen verteilten sich über Decks und Bänke, Stimmen wirbelten durcheinander, Lachen, fremde Sprachen, Anweisungen von Matrosen. Die Luft war warm, feucht vom Atem so vieler Körper, und meine Schultern spannten sich an. Ich drängte mich nach draußen, suchte Luft und Weite. Ein Schritt – und es war, als hätte jemand eine Tür in eine andere Welt aufgestoßen. Draußen blies mir Wind entgegen, kräftig, kühl, voller Salz. Der Wechsel war abrupt: drinnen Hitze und Enge, draußen Licht und Raum. Das Wasser glitzerte im grellen Schein der Mittagssonne, wie Schuppen auf einer unruhigen Fläche. Hinter uns wuchs die Skyline wie eine Mauer aus Glas und Stahl. Möwen kreischten, Stimmen brandeten auf und verebbten wieder. Ich spürte, wie mein Blick sich weiten durfte. Die Motoren grollten, Vibrationen stiegen durch die Planken in die Füße. Langsam löste sich die Fähre vom Dock, Möwen schnitten durch das Stimmengewirr. Ein metallischer Geruch mischte sich mit Salz. Kinder sprangen am Geländer, ein Paar lehnte eng aneinander, andere suchten hektisch die besten Plätze, Kameras schon erhoben. Ich ließ all das an mir vorbeiziehen, ohne mich mitreißen zu lassen. Ein Stück weiter lichtete sich die Menge. Neben mir rauschte das Wasser, Gischt spritzte auf, kühle Tropfen legten sich auf die Haut. Ich sog tief ein. Die Luft schmeckte nach Salz, nach Freiheit. Am kalten Geländer spürte ich das tiefe Dröhnen der Motoren, ein gleichmäßiges Pochen, das den Körper von unten her ausfüllte. Vor uns schob sich die Freiheitsstatue ins Bild, mit jedem Meter größer, klarer, monumentaler. Grünlich schimmernd im Licht, die Fackel gegen den Himmel gestreckt. Um mich herum das Durcheinander aus Rufen, Klicks, dem Blinken unzähliger Smartphones. Ich blieb still und ließ den Anblick in mich sinken. Doch mein Blick blieb nicht bei der Statue. Ein Stück weiter an der Reling stand eine Frau. Ihr Haar, braun mit goldenem Schimmer, flatterte im Wind, Strähnen lösten sich und zeichneten feine Linien ins Licht. Schlank, die Haltung locker, doch mit einer Spannung, als stemmte sie sich gegen das Schaukeln. Ihre Finger ruhten lose am Metall, beiläufig und doch Halt suchend. Sie hob eine Digitalkamera vors Auge, klassisch durch die Linse, nicht über den Bildschirm. Zeitlos wirkte es, fast intim. Ihr Gesicht konzentriert, die Lippen leicht geöffnet, als hielte sie unbewusst den Atem an. Von der Seite sah ich die feine Linie ihrer Nase, das angedeutete Lächeln, das der Wind davontrug. Ich lehnte mich an die Außenwand, nur ein paar Schritte entfernt, und beobachtete sie. Inmitten der Hektik wirkte sie still, anders als die anderen, die hastig knipsten und sofort kontrollierten. Ihr Moment gehörte nur ihr. Dann brach eine stärkere Welle den Zauber. Die Fähre schwankte abrupt. Ihr Körper kippte, die Hände hielten weiter an der Kamera fest. Ich stieß mich von der Wand ab, griff nach ihr, legte meine Hand an ihren Rücken. Unter der dünnen Jacke spürte ich Wärme, den Ruck ihres Körpers, zog sie an mich, bevor sie das Gleichgewicht verlor. Ihre Schulter prallte hart gegen meine Brust, dann weich, als sie Halt fand. Ihr Atem stieß schnell aus, ein Hauch gegen mein Hemd, durchzogen von einem zarten, blumigen Duft, vermischt mit Salz und Wind. „Oh… dank je,“ flüsterte sie, nah, ihre Stimme weich, mit einem leichten Akzent. Sie richtete sich langsam auf, ihre Augen trafen meine – hell, grün mit goldenen Fäden, im Sonnenlicht fast schimmernd. Die Kamera hielt sie fest an sich, als wolle sie sie vor einem erneuten Sturz schützen. „Ich hätte fast… die Statue aus einem ganz schrägen Winkel erwischt.“ Ich lachte leise. „Wäre sicher ein besonderes Foto geworden.“ Sie blinzelte prüfend, dann huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. „Aber nicht das, was ich wollte. Ich mache es… auf die alte Art. Kein Bildschirm. Nur ich und das Bild.“ „Scheint zu funktionieren. Bis auf die Wellen.“ Ein leises Lachen entwich ihr, tiefer als erwartet, doch hell und leicht. „Ja… die Wellen machen, was sie wollen.“ Sie wandte sich wieder der Statue zu, hob die Kamera. Eine Strähne ihres Haars streifte meine Wange, federleicht. Sie schien es nicht zu bemerken. Ihr Stand war noch unsicher, doch sie hielt sich, hob den Sucher. So nah neben ihr nahm ich die feinen Bewegungen ihres Atems wahr, das leichte Zittern nach dem Ausrutscher. Ich ließ meinen Blick an ihr verweilen. In der Art, wie sie die Kamera hielt, lag eine Ruhe, ein Festhalten gegen das Chaos ringsum. Der Moment gehörte ihr und dem Bild – und ich stand da, den Rücken an die Wand gelehnt, die Nähe spürend, während die Fähre an der Statue vorbeizog. Das Dröhnen der Motoren mischte sich mit ihrem leisen Atem, der sich immer wieder mit meinem verband. Die Stimmung an Bord verriet das Ende der Fahrt. Die Menschen sammelten sich, Stimmen wurden lauter, das Gedränge schob nach vorn. Ich wusste, dass alle in Staten Island aussteigen mussten. Sie blieb neben mir, hielt die Kamera locker in den Händen. „Müssen wir wirklich runter?“ fragte sie, halb zu mir, halb in die Menge. „Ja. Aber wenn du gleich zurück willst, musst du nur warten und wieder einsteigen. Die Fähre fährt direkt zurück.“ Sie hob die Augenbrauen, ein Schmunzeln in ihrem Blick. „Du kennst dich aus, ja?“ „Ein bisschen vorbereitet,“ sagte ich mit einem Lächeln. „So spart man sich einiges Chaos.“ Wir gingen mit dem Strom, Stufen hinunter, das Dröhnen der Motoren verklang. Diesel, Metall und Salz hingen schwer in der Luft. Auf dem Dock löste sich die Menge auf: Pendler, Touristen, Kinder. Sie blieb neben mir stehen, unsicher. „Und jetzt?“ Ich deutete zum Eingang, wo sich schon eine Traube von Menschen drängte, alle auf den nächsten Einstieg bedacht. „Wenn wir uns dazustellen, sind wir gleich wieder drauf.“ Ein Aufleuchten in ihren Augen, ein spielerisches Nicken. „Gut. Ich wollte die Statue sowieso noch einmal sehen. Und vielleicht diesmal nicht beinahe ins Wasser fallen.“ Wir reihten uns ein. In der Enge kam ihre Hand kurz an meine, eine beiläufige, doch warme Berührung. „Ich heiße Tessa,“ sagte sie plötzlich, den Blick weiter nach vorn gerichtet. Ich drehte mich zu ihr. „Freut mich. Ich bin Levin.“ Die Tür öffnete sich, die Stimmen schwollen an. Wir gingen gemeinsam die Rampe hinauf, diesmal nebeneinander, Schritt für Schritt.

Created by LevinLiebezeit

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